12. Mai 1908

Ein Baumblütensonntag, wie man ihn nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, war uns gestern beschert. Der Beginn der Baumblüte war durch das kalte unfreundliche Wetter sehr spät hinausgeschoben worden, erst in der letzten Woche hatten einige warme Regenschauer die Entwicklung der gesamten Pflanzenwelt gewaltig gefördert und die Bäume mailich geschmückt. Die Obstbaumblüte schimmert in berückender Reinheit, auch die Apfelbäume zeigen schon im Aufbrechen begriffene Knospen, die Magnolien haben ihre großen märchenhaften Kelche voll erschlossen, sogar die Kastanien beginnen bereits ihre Kerzen aufzustecken. Die meisten Baumarten haben ihren Blätterstaat vollendet und die säumigen sputen sich, dem Beispiele zu folgen. Ein Spaziergang durch Gubens Obstberge bietet jetzt jedem Naturfreund entzückende Bilder, reizvoll und in mannigfaltiger Abwechslung. Das war gestern auch die einstimmige Ansicht der überaus zahlreich erschienenen Gäste von außerhalb, die Gubens Baumblüte einen Besuch abstatteten. Seit vielen Jahren war der Fremdenverkehr nicht so stark wie gestern. Die Zahl der Fremden war nach Tausenden zu schätzen. Schon die Morgenzüge waren mit Ausflüglern nach Guben dicht besetzt und jeder Zug brachte neue Gäste in Scharen. In den Straßen der Stadt wie in allen Berggassen herrschte von den frühesten Morgenstunden an ein ungewöhnlich lebhaftes Treiben. Zum Wandern war das Wetter prachtvoll, zudem waren infolge des am Sonnabend Nachmittag niedergegangenen Gewitterregens alle Wege völlig staubfrei. Die Wetterprognose hatte auch für gestern nichts weniger als günstig gelautet, aber dem zum Trotz blieb der Tag ohne Regen, erst abends gegen 11 Uhr ging ein kräftiger Regenguß nieder. Alle Berglokale waren tagsüber dicht besetzt, zeitweise überfüllt, und die vielen fleißigen Hände konnten kaum dem Ansturm der Hungrigen und Durstigen genügen. Alles in allem fast wider Erwarten ein Baumblütensonntag, mit dem Jedermann voll zufrieden sein konnte.