13. Februar 1902

Ein fideles Rathhaus.  Ein Gegenstück zu dem "fidelen Gefängniß" in der Operette "Die Fledermaus" scheint das Rathhaus in Kornwestheim zu sein. Eine Verhandlung gegen den Schultheiß (Bürgermeister) dieses ungefähr 2.700 Einw. zählenden Ortes enthüllte vor dem Disziplinarhof in Stuttgart allerlei recht sonderbare Vorgänge. Schultheiß Bölmle, der verheirathet und Vater von 8 Kindern ist, stand unter der Anklage, durch Trunkenheit, Vernachlässigung seiner Dienstpflichten, Schuldenmachen etc. sich seines Amtes unwürdig gemacht und Achtung und Vertrauen der Kornwestheimer  verloren zu haben. Unter den vielen Zeugen, die in der Sache vernommen wurden, befanden sich auch mehrere Gemeinderäthe, die sich über den gewaltigen Durst des Angeklagten übel ausließen. Ihren Behauptungen gegenüber erklärte Schultheiß Bölmle aufs bestimmteste, er habe das Trinken erst von den Gemeinderäthen gelernt; in den Sitzungen auf dem Rathhaus seien zuweilen Gemeinderäthe in so betrunkenem Zustande gekommen, daß eine Verhandlung mit ihnen unmöglich gewesen sei; er selbst sei dagegen in den Sitzungen nie betrunken gewesen. Nach den Sitzungen habe man gewöhnlich nach alter Sitte gemeinsam einen Trunk im Wirthshaus gethan, und da habe er tapfer mitgehalten, doch habe er nie so viel vertragen können wie dieser und jener trinkfeste Gemeinderath. Hervorzuheben ist aus der Gerichtsverhandlung auch der Vorwurf, der Herr Schultheiß habe den Polizeidiener öfter angeborgt. Polizeidiener Scherlinsky bestätigte in seiner Zeugenaussage diese Anklagepunkte und theilte weiter mit, er habe dem Ortsvorsteher des Morgens je eine halbe Flasche Schaumwein und Rothwein ins Amtszimmer tragen müssen; mitunter habe der Herr Ortsvorsteher ihm, sowie dem zweiten Polizeidiener, dem Amtsgehilfen und dem Lehrling zum Weine eingeladen. "Das geschah nur aus besonderer Anerkennung, bei besonderen Anlässen!" äußerte sich der Schultheiß zu dieser Behauptung. - Das Urtheil des Disziplinargerichtshofes lautet auf Dienstentlassung und Tragung aller Kosten.