13. November 1902

Die Kunst, lange zu leben: Ein niederhessischer Pfarrer hatte, so schreibt man der "Frkf. Ztg." in seiner Gemeinde einige räudige Glieder, die der Branntweinflasche unmäßig zusprachen und die zu bessern sein eifriges Bemühen war. Zu ihnen gehörte auch ein mehr als siebzig Jahre alter Schäfer. Eines Tages traf nun der Geistliche auf seinem Spaziergange besagten Schäfer bei seiner Heerde und beschloß, die Gelegenheit zu benutzen und dem Alten, der erst kürzlich völlig berauscht in seiner Schäferhütte aufgefunden worden war, ins Gewissen zu reden. Da er aber kein zorniger Eiferer war, sondern durch milde und lehrreiche Ermahnungen zu wirken suchte, begrüßte er sein verirrtes Gemeindemitglied mit freundlichen Worten, sprach mit ihm über Wetter, Ernte und dergl. und sagte dann wie beiläufig:" Nun ist ja der alte R. auch zur ewigen Ruhe eingegangen. Vierundachtzig Jahre alt! Ein schönes Alter!" "Do hon Se Recht, Herr Parr", bemerkte der Hüter der Schafe beifällig winkend - "Er hat aber auch", fuhr der Pfarrer fort, indem er den Schäfer ernst ins Auge faßte, "in seinem Leben nie einen Tropfen Branntwein getrunken." - Der brave Schäfer nickte wieder zustimmend und erwiderte treuherzig: "Wissen Se, Herr Parr, ich hon schont so bi me gedacht, wann he alsemol en Schnäpschen getrunken hätte, viellichte lewete he dann noch."

Durch diese unerwartete Bemerkung verblüfft, und belustigt zugleich, verabschiedete sich der Geistliche lächelnd, ohne seine sanfte Strafpredigt vollendet zu haben.