19. Mai 1903

- Der Flieder hat in diesem Jahr - keinen Duft, so behauptet Johanes Trojan in der "Nat.Ztg.".

Nur ganz allmählich ist man zur Erkenntnis solcher unerfreulichen Tatsache gelangt. Zunächst glaubte jeder, er merke diesen Duft nicht, weil er einen Schnupfen habe. Herrschte doch auch eine Zeit lang eine Witterung, bei der dieser Erkältungszustand als der normale erschien. Deshalb wunderte man sich auch nicht weiter, wenn andere Leute gleichfalls nichts von einem Fliederduft merkten. Erst als man überhaupt niemanden fand, der sich an dem zarten, lieblichen Dufte des Flieders so wie früher erfreuen konnte, begann man stutzig zu werden. Es erschien höchst unwahrscheinlich, daß alle Menschen gleichzeitig einen Schnupfen haben sollten. Alle Menschen bekommen zwar auch die Masern, aber doch nicht gleichzeitig. Außerdem hätte wenigstens bei dem einen oder anderen diese Geruchsunempfindlichkeit schließlich ein Ende finden müssen. Die Schuld muß also auf der anderen Seite liegen.

Die Fliederblüten haben tatsächlich nicht den gewohnten Duft. Ganz in der Nähe merkt man zwar einen schwachen Fliedergeruch, aber die Duftwellen fehlen, die sonst um diese Zeit die laue Luft erfüllten. Anscheinend sind die Duftkeime den rauhen Winden und dem Schnee des April zum Opfer gefallen. Das ist sehr traurig. Denn was ist ein Flieder ohne Duft?