8. April 1902

Unsittliches im "Lied der Glocke".

In einer Stadt in Württemberg wird der Frkf. Ztg. geschrieben: Sie haben schon öfters auf die von gewissen Pädagogen vorgenommenen "Verbesserungen" der Geistesprodukte unserer Dichter und Denker hingewiesen, - Verbesserungen, die unternommen wurden, "um die Seelen der Kinder vor Schaden zu bewahren." Lassen Sie sich ein neues Vorkommniß dieser Art mittheilen:

Der Rektor unserer höheren Töchterschule ordnete bei der Schlußfeier der obersten Klasse (Mädchen von 15 und 16 Jahren) an, daß beim Vortrag des herrlichen "Liedes von der Glocke" die Stelle : "Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe" bis "Die schöne Zeit der jungen Liebe" auszulassen ist.

Wenn man nun berücksichtigt, daß sämmtliche Mädchen das ganze Gedicht ohne Verstümmelung auswendig lernen mußten, so wird man den erzieherischen Werth dieser Maßregeln in seiner ganzen Größe zu würdigen wissen

Unser großer Schiller aber würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erfahren könnte, daß so etwas nahezu 100 Jahre nach seinem Tode, 2 Wegstunden von seinem Geburtsort entfernt, in einer Stadt geschehen konnte, wo er selbst einige Zeit gewohnt hat.